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NZZ Folio, Mai 2004 Zoff am Zaun

Kreischende Papageien, wuchernde Pflanzen, endlose Grillparties, heftiges Liebesgestöhn: Was Nachbarn vor den Richter treibt.

Genüsslich verfolgen wir Streitereien unter Nachbarn, deren Ursache uns meistens lächerlich erscheint. Sind wir es selbst, dem Nachbars Baum vor der Sonne steht oder den Nachbars Beo mit seinen Sprechkünsten beglückt, ist es mit unserer Souveränität dann meist auch nicht weit her. Wir müssen es ja nicht gerade bis zur nationalen Berühmtheit bringen wie die Deutsche Regine Zindler, die sich öffentlich darüber empörte, dass der Knallerbsenstrauch des Nachbarn ihrem Maschendrahtzaun zusetzte. Ein gefundenes Fressen fürden Blödelsänger Stefan Raab, einen Song daraus zumachen, der zum Hit wurde.

Auch hierzulande entscheiden die Gerichte Tag für Tag über Streitigkeiten unter Nachbarn. Da die Schweiz kein eigentliches Nachbarrecht kennt, werden dabei die unterschiedlichsten Gesetzesbestimmungen angewendet, eidgenössische und kantonale, privatrechtliche und öffentlichrechtliche. Im öffentlichen Recht haben mit der zunehmenden Besiedlung vor allem Umweltschutz und Raumplanungsvorschriften an Bedeutung gewonnen. Das private Nachbarrecht, hauptsächlich im Zivilgesetzbuch (ZGB) festgehalten, ist hingegen weitgehend auf dem Stand seiner Erschaffung im Jahr 1907 stehen geblieben.Geändert wurden lediglich die kantonalen Einführungsgesetze.

Der Gründe, die zu Konflikten zwischen Nachbarnführen können, sind viele. Auffallend ist, dass sich Streitereien häufig gerade an dem entzünden, was viele Eigenheimbesitzer als ihr spezifisches Privileg betrachten: an Haustieren, an Gartenpflanzen, an Grillparties im Freien. Ein fremdes Tier ist aber nicht dasselbe wie das eigene, und wer eine Katze liebt, liebt nicht zwangsläufig viele Katzen. Im Fall eines Eigenheimbesitzers in einer ländlichen Region, der sich zum Verdruss der Nachbarn auf seinem Grundstück am Rand der Wohnzone 60 Katzen hielt, wurde entschieden und nach mehreren Instanzen vom Bundesgericht bestätigt, er dürfe nicht mehr als 5 Katzen halten. Das Recht der persönlichen Freiheit des Tierhalters werde damit nicht verletzt, denn das Halten von Tieren gehöre nicht zum Kernbereich der menschlichen Persönlichkeitsentfaltung.

Als sich der Gemassregelte auf die Eigentumsgarantie berief, fand er damit kein Gehör. Vom Eigentümer einer Liegenschaft könne verlangt werden, dass er die Wohnqualität der Nachbarn nicht durch Immissionen beeinträchtige, wie sie mit dem Halten von 60 Katzen verbunden seien. Das Urteil illustriert beispielhaft das im Nachbarrecht zentrale Spannungsverhältnis zwischen «freier Persönlichkeitsentfaltung» und Beschränkung eben dieser persönlichen Entfaltung im Dienste eines Nachbarn oder der Öffentlichkeit.

Die besonderen Gegebenheiten eines Sachverhaltes können für den Entscheid ausschlaggebend sein. Das zeigen exemplarisch zwei Fälle, in denen es um Kuhglockengeht. Im ersten Fall störte sich der Eigentümer eines in einem Dorf gelegenen Wohn- und Geschäftshauses am nächtlichen Geläut der Kühe, die vor seiner Liegenschaft weideten. Seine Klage auf Verbot fand den Schutz des Bundesgerichts. Es befand, die Interessen des Nachbarn, der durch das Geläut in seiner Nachtruhe gestört war, seien höher zu werten als das Recht des Bauern, seinem Vieh nachts Glocken umzuhängen. Zumal sich die Weide in bewohntem Gebiet befand und umzäunt war und die Kuhglocken daher nicht notwendig seien.

Anders urteilte das Bundesgericht in einem Fall, wo die Kühe auf einer Alp weideten. Dort wurde das Interesse des Bauern, seine Kühe im unwegsamen Gelände mit Hilfe des Glockengeläuts wieder auffinden zu können, höher bewertet als das Interesse des Nachbarn an einer ungestörten Nachtruhe.

Zu Zwistigkeiten führen immer wieder Tiere, die die Grundstückgrenzen, wie sie im Grundbuch eingetragen sind, nicht respektieren. Etwa Hunde, die ihr Geschäft in Nachbars Garten verrichten und dabei auch noch die kleine Tochter des Nachbarn in Angst versetzen. Dagegen kann sich der Nachbar, gestützt auf die Eigentums- oder Besitzesschutzvorschriften des ZGB, zur Wehr setzen. Das Eindringen des Hundes auf sein Grundstück stellt nämlich einen unberechtigten Eingriff in sein Eigentum oder seinen Besitz dar. Der Nachbar kann deshalb gerichtlich verlangen, dass der Hundehalter das Notwendige vorkehrt, damit sein Hund nicht mehr auf die Nachbarliegenschaft gelangen kann.

Ein anderes Beispiel der tierischen Art: Eine Zürcherin hielt mitten in Zürich mehrere Graupapageien, die sie bei schönem Wetter in ihrem Käfig auf den Balkon stellte. Das Kreischen dieser Papageien empfanden die Nachbarn als äusserst lästig. Das Obergericht beschied, dass das Kreischen eine übermässige Einwirkung sei, die von den Nachbarn nicht geduldet werden müsse, andererseits ein gänzliches Halteverbot für Papageien aber unverhältnismässig wäre. Es schlug den streitenden Nachbarn einen Kompromiss vor, dem sie schliesslich zustimmten: Die Papageien durften nur noch werktags von 10 bis 12 und von 14 bis 17 Uhr im Freien gehalten werden. Zudem musste die Halterin eine Schutzwand erstellen, die den schlimmsten Lärm abhalte.

Pflanzen machen keinen Lärm. Aber auch sie können das Blut des Nachbarn in Wallung bringen. Die Prozessthemen bei Streitigkeiten um Pflanzen sind nahezu so vielfältig wie die Pflanzenarten. Nicht ungewöhnlich, dass ein Eigentümer dem Nachbarn vorwirft, er sei für das auf seinem Grundstück wachsende Unkraut oder den sich auf seinem Grundstück ausbreitenden Schädling verantwortlich, da er seinen Naturgarten nicht gut genug pflege. Aus solchen und ähnlichen Vorwürfen abgeleitete Ansprüche sind allerdings in einem Prozess gegen den Nachbarn aus beweisrechtlichen Gründen äusserst schwierig durchzusetzen.

Etwas einfacher ist die Beweisführung, wenn Laub oder Nadeln vom Baum des Nachbarn auf das eigene Grundstück fallen. Ein solcher Laub- oder Nadelanfall ist unter Umständen zu dulden, wie folgender Fall zeigt: Ein Ehepaar, das in einer Einfamilienhaussiedlung lebte, klagte gegen den benachbarten Eigentümer, weil das Laub der Lindenbäume in dessen Parkanlage auf ihr Grundstück fiel. Das Obergericht wies die Klage mit der Begründung ab, der Laubanfall als Einwirkung gemäss ZGB könne nur dann übermässig und daher unzulässig sein, wenn er sich für die Nachbarschaft schädlich auswirke. Soweit der Laubanfall aber ortsüblich sei und der Zonenlage entspreche, müsse er von den klagenden Eigentümern geduldet werden.

Anders entschied ein Tessiner Gericht bei einem ähnlichen Sachverhalt: Auf einem städtischen Grundstück befanden sich zwei Libanonzedern. Die Nadeln dieser zwei Zedern fielen das ganze Jahr über auf das Nachbargrundstück und verursachten dort nicht nur einen kahlen Rasenstreifen, sondern verstopften auch regelmässig die Dachrinnen und Wasserabflussrohre. Ein solch massiver Anfall von Zedernnadeln war nach Ansicht des urteilenden Gerichts für das entsprechende Wohnquartier unüblich und damit übermässig. Der Eigentümer der Zedern musste für Abhilfe sorgen.

Auch tropfende Harze, etwa von Birkenblüten, gelten als Immission. Unter Umständen kann deshalb der Nachbar verlangen, dass die ihn störenden Pflanzen ganz oder teilweise entfernt werden. Verursachen die Immissionen auf dem Nachbargrundstück Schäden, haftet der Eigentümer der Pflanzen – sofern ihn ein Verschulden trifft und der Nachbar in die Schädigung nicht «eingewilligt» hat. Eine Einwilligung dürfe beispielsweise angenommen werden, wenn der Nachbar die Entfernung des Harztropfen verursachenden Astes nicht verlangt habe. Gleich müsste im Schadenfall entschieden werden, wenn ein Grundeigentümer vom Nachbarn nicht die Entfernung auf der Grenze stehender giftiger Pflanzen forderte, obwohl ihm bekannt war, dass die Pflanzen seine Tiere gefährdeten.

Nicht nur Blätter und Nadeln geben Anlass zu Beanstandungen, oft sind die Bäume selber das Streitobjekt. Was zur Freude des einen gedeiht, ist dem andern ein wachsender Ärger, wenn es die Aussicht versperrt oder Schatten auf sein Grundstück wirft. Die Qualifikation eines solchen Schattenwurfs oder «Entzugs der Aussicht» als Immission im Sinne des Nachbarrechts war in der Rechtslehre lange Zeit umstritten. Das Bundesgericht musste erst vor wenigen Jahren zu dieser Frage Stellung nehmen und anerkannte den «Entzug der Aussicht» und den Schattenwurf als negative Immission im Sinne des ZGB. Je nach Ortslage und Umständen kann ein geplagter Nachbar deshalb das Fällen oder Zurückschneiden der störenden Pflanze selbst dann verlangen, wenn ihr Bestehenbleiben gemäss den kantonalen Pflanzvorschriften zulässig wäre.

Hingegen ist es nicht ratsam, mit der Säge im Schutz der Dunkelheit den Störenfried zu beseitigen. Das kann teuer zu stehen kommen. Bei über die Grundstücksgrenze wachsenden Ästen und Wurzeln besteht zwar grundsätzlich ein Kapprecht, doch muss man dem Eigentümer zuvor eine angemessene Frist einräumen, die Pflanze selber zurückzuschneiden. In einzelnen Kantonen ist das Kapprecht für fruchttragende Bäume ausgeschlossen. Wer sich nicht an die Regeln hält, muss mit einer Anzeige wegen Sachbeschädigung rechnen.

Breitet sich eine Pflanze vom Nachbargrundstück unterirdisch auf den eigenen Garten aus, wie das etwa der Bambus tut, kann man sich auf die Eigentumsschutzbestimmung nach ZGB berufen und vom Nachbarn Massnahmen verlangen, die ein zukünftiges Überwachsen verhindern.

Nachbarn im Sinne des Nachbarrechts sind nicht nur alle unmittelbar an die eigene Liegenschaft Anstossenden, sondern jeder, der als Eigentümer oder Besitzer von Immissionen eines fremden Grundstücks betroffen ist. Ein Blick auf die Rechtsprechung zeigt, dass sich die wenigsten Verfahren, die Gerüche, Staub oder Lärm zum Gegenstand haben, zwischen Eigenheimbesitzern abspielen, sondern zwischen Eigenheimbesitzern und der öffentlichen Hand. Man denke etwa an die Auseinandersetzungen um Flug-, Strassen- oder Eisenbahnlärm.

Unter Nachbarn werden sich in den lauen Nächten des kommenden Sommers die Klagen über den Lärm und die Gerüche von Grillparties bald wieder häufen, beides Immissionen im Sinne des Zivilgesetzbuchs. Ist der Rauch oder der Lärm übermässig, braucht er vom Nachbarn nicht akzeptiert zu werden. Allerdings ist in der Praxis schwierig zu entscheiden, was übermässig ist. Dazu werden Kriterien wie Lage, Nutzung der betroffenen Grundstücke, persönliche Umstände und Ortsgebrauch herangezogen.

Als übermässige Immission qualifiziert wurde auch, als jemand auf seiner Terrasse eine zwei Meter hohe Plastik aufstellte, die einen gestikulierenden Mann zeigte. Oder als jemand an einer Wetterwand Schriftzeichen anbrachte, die den Nachbarn immer daran erinnern sollten, dass er Verwaltungsrat eines konkursiten Unternehmens gewesen war. Nicht sanktioniert wurde hingegen heftiges Liebesgestöhn. Dieses – so das Bundesgericht– halte erfahrungsgemäss in der Regel nicht lange an und sei daher nicht geeignet, sich übermässig belästigend auf die Nachbarschaft auszuwirken. Der Betrieb eines Bordells in einem Mehrfamilienhaus – so das Luzerner Obergericht – führe hingegen nach allgemeiner Lebenserfahrung zu übermässigen Immissionen.

Gerichtliche Verfahren sind in der Regel kompliziert, kosten- und zeitintensiv und zehren an den Nerven der streitbeteiligten Nachbarn, vor allem, wenn sie über mehrere Instanzen geführt werden. Mittels Gerichtsverfahrens lässt sich zwar feststellen, wer recht und wer unrecht hat. Den Frieden zwischen Nachbarn wiederherzustellen, vermag ein Urteil hingegen nicht. Der Gang ans Gericht sollte daher Ultima Ratio sein. Fruchtet das Gespräch mit dem Nachbarn oder der Nachbarin nicht, kann ein Vermittler beigezogen werden. Gerade die Mediation ist im Bereiche des Nachbarrechts eine gute Alternative zum Gerichtsverfahren, beabsichtigt sie doch, einen Streit nicht nur aufgrund des Rechts, sondern nach den Interessen der Streitbeteiligten zu lösen. Damit lassen sich unter Umständen Zeit, Geld und Nerven sparen.

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Beitrag veröffentlicht am
1. Juni 2004

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