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krfacts Ausgabe April 2021 Neue familienrechtliche Entscheidungen des Bundesgerichts

In den letzten Monaten hat das Bundesgericht mehrere richtungsweisende Urteile gefällt, welche inskünftig für familienrechtliche Angelegenheiten von Bedeutung sein werden. Die wichtigsten Punkte daraus und auch von früheren Urteilen haben wir für Sie in dieser krfacts-Ausgabe zusammengefasst und in einem Beispiel verdeutlicht.

1. Aufgabe der „45er-Regel“ (BGer 5A_104/2018)

Im Entscheid vom 02. Februar 2021 hat das Bundesgericht die Anwendung der sogenannten „45er-Regel“ aufgegeben. Diese Regel beinhaltete, dass einem Ehegatten die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit nicht mehr zuzumuten ist, wenn er während der Ehe nicht berufstätig war und im Zeitpunkt der Aufhebung des gemeinsamen Haushalts beziehungsweise bei der Scheidung das 45. Altersjahr bereits erreicht hatte.

Neu ist stets von der Zumutbarkeit einer Erwerbstätigkeit auszugehen, soweit eine solche Möglichkeit tatsächlich besteht und keine Hinderungsgründe vorliegen wie namentlich die Betreuung kleiner Kinder.

Folge: Elternteile, die sich während der Ehe vorwiegend um die Kinder gekümmert haben und aufgrund dessen keiner Erwerbstätigkeit nachgehen, sind nach Auflösung der Ehe auch im fortgeschritteneren Alter gezwungen, eine Arbeitstätigkeit aufzunehmen. Ob dies angesichts der Lage auf dem Arbeitsmarkt auch tatsächlich möglich ist, hat das Gericht im Einzelfall zu entscheiden. Will der betreuende Elternteil keine Arbeitstätigkeit aufnehmen, so wird ihm bei der Unterhaltsberechnung ein hypothetisches Einkommen angerechnet, was dazu führt, dass er rechnerisch mehr Einkommen erzielt als er dies tatsächlich tut. Folglich fallen die ihm zustehenden Unterhaltszahlungen geringer aus.

Der Vollständigkeit halber wird vorliegend erwähnt, dass die kürzlich eingeführte „Schulstufen-Regel“ weiterhin angewendet wird. Danach soll der hauptbetreuende Elternteil ab der obligatorischen Einschulung des jüngsten Kindes grundsätzlich zu 50% einer Erwerbstätigkeit nachgehen, zu 80% ab seinem Eintritt in die Sekundarstufe und zu 100% ab vollendetem 16. Lebensjahr.

2. Definition des Begriffs der „lebensprägende Ehe“ (BGer 5A_907/2018)

In seinem Entscheid vom 03. November 2020 hatte das Bundesgericht Gelegenheit, den Inhalt des Begriffs der lebensprägenden Ehe neu zu definieren. Eine lebensprägende Ehe ist grundsätzlich Voraussetzung für den Anspruch auf Beibehaltung des bisherigen ehelichen Lebensstandards bzw. Anspruch auf den nachehelichen Unterhalt. Ist eine Ehe nicht lebensprägend, so besteht kein nachehelicher Unterhaltsanspruch.

Für die Beurteilung, ob eine Ehe lebensprägend war oder nicht, stützte sich das Bundesgericht bis Anhin auf Vermutungen. Im Hinblick auf die Dauer der Ehe nahm das Bundesgericht eine lebensprägende Ehe an, sofern die Ehegatten mehr als zehn Jahre zusammengelebt haben. Dauerte das Zusammenleben während der Ehe weniger als fünf Jahre, ging das Gericht von einer Kurzehe aus. Waren gemeinsame Kinder aus der Ehe hervorgegangen, wurde eine Lebensprägung ebenfalls vermutet.

Neu ist eine individuelle Prüfung erforderlich, ob die konkrete Ehe das Leben der Ehegatten entscheidend geprägt hat. Wird diese Frage bejaht, ist die Dauer des Unterhaltsanspruchs vor dem Hintergrund der konkreten Umstände des Einzelfalles zeitlich angemessen zu befristen. Eine Ehe ist nach neuer Rechtsprechung dann lebensprägend, wenn ein Ehegatte seine ökonomische Selbständigkeit zugunsten der Haushaltsbesorgung und Kinderbetreuung aufgegeben hat und es ihm deshalb nach langjähriger Ehe nicht mehr möglich ist, an seiner früheren beruflichen Stellung anzuknüpfen, während der andere Ehegatte sich angesichts der ehelichen Aufgabenteilung auf sein berufliches Fortkommen konzentrieren konnte.

Das Bundesgericht löst sich somit von seinen Vermutungen und will zukünftig die Lebensprägung der Ehe einer individuellen Prüfung unterziehen.

3. Vereinheitlichung der Unterhaltsberechnung (BGer 5A_311/2019)

Das Bundesgericht hat in seinem Entscheid vom 11. November 2020 im Hinblick auf die Methode der Unterhaltsberechnung entschieden, dass inskünftig jeweils die zweistufige Methode mit Überschussverteilung angewendet werden soll. Damit entfällt die Anwendung der einstufig konkreten Methode, welche jeweils bei sehr guten finanziellen Verhältnissen zum Zuge kam.

Bei der zweistufigen Methode mit Überschussverteilung werden zunächst die zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel festgestellt. Des Weiteren wird der Bedarf der von der Unterhaltsberechnung betroffenen Personen ermittelt. Schliesslich werden die vorhandenen finanziellen Mittel auf die beteiligten Familienmitglieder dahingehend verteilt, dass in einer bestimmten Reihenfolge das betreibungsrechtliche bzw. bei genügenden Mitteln das sogenannte familienrechtliche Existenzminimum der Beteiligten gedeckt und alsdann ein verbleibender Überschuss nach der konkreten Situation ermessensweise verteilt wird.

4. Beispiel

Die vorgängigen Entscheide werden nachfolgend anhand eines Beispiels verdeutlicht:

X und Y sind seit neun Jahren verheiratet. X und Y haben gemeinsam zwei Kinder. X ist hauptbetreuender Elternteil und arbeitete während der Ehe aufgrund der Kindererziehung lediglich in einem 20%-Pensum, währenddessen Y in einem 100%-Pensum arbeitete. Das jüngste Kind (K2) ist zum Zeitpunkt der Trennung sieben Jahre alt.

Zunächst ist danach zu fragen, ob die Ehe von X und Y lebensprägender Natur ist. Neu muss individuell geprüft werden, ob die konkrete Ehe das Leben der Ehegatten entscheidend prägte. Aus der neunjährigen Ehe sind vorliegend zwei Kinder hervorgegangen. X hat ihren Erwerb aufgrund der Betreuung der gemeinsamen Kinder auf ein 20%-Pensum reduziert. Aufgrund der zwei gemeinsamen Kinder sowie der Reduktion der Erwerbstätigkeit zu Gunsten der Kinderbetreuung wäre vorliegend wohl eine lebensprägende Ehe zu bejahen. Entsprechend hat X einen Anspruch auf Beibehaltung des bisherigen ehelichen Lebensstandards.

X ist weiterhin mit der Betreuung der Kinder beschäftigt. X ist zum Zeitpunkt der Trennung 46 Jahre alt und es wäre X nach alter Rechtsprechung allenfalls nicht mehr zuzumuten, einer Erwerbstätigkeit in einem höheren Pensum nachzugehen. Nach neuer Rechtsprechung wird X jedoch die Aufnahme bzw. Erhöhung einer Erwerbstätigkeit grundsätzlich zugemutet, sofern die tatsächliche Möglichkeit dazu besteht und keine Hinderungsgründe ersichtlich sind. Dabei ist die Schulstufen-Regel zu beach-ten. Ab der Einschulung (mit Eintritt in den Kindergarten) von K2 ist X nach dem Schulstufenmodell ein Pensum von 50% zuzumuten. Weigert sich X trotz der tatsächlichen Möglichkeit, einer Erwerbstätigkeit in einem 50%-Pensum nachzugehen, so wird anlässlich der Berechnung des nachehelichen Unterhalts in diesem Umfang ein hypothetisches Einkommen angerechnet.

5. Folgen für bestehende Urteile

Aufgrund der genannten Änderungen der Rechtsprechung fragt es sich, ob bereits bestehende Unterhaltsurteile bzw. Unterhaltsvereinbarungen angepasst werden können. Die Abänderungsklagen des Familienrechts setzen jeweils eine erhebliche und dauernde Veränderung der wirtschaftlichen Verhältnisse voraus. Eine Änderung der Rechtsprechung kann somit nicht als alleiniger Grund für die Abänderung angeführt werden. Allenfalls könnte die neue Rechtsprechung zusammen mit einer tatsächlichen Veränderung der wirtschaftlichen Verhältnisse angeführt werden. Dies müsste jedoch im Einzelfall geprüft werden.

6. Fazit

Das Bundesgericht hat neue Grundsätze vorgegeben, sieht aber letztlich immer die Prüfung im konkreten Einzelfall vor. Aufgrund der individuellen Umstände sind deshalb Abweichungen von den Grundsätzen möglich, die Lösung im Einzelfall kann unterschiedlich aussehen.

Sollten Sie konkrete Fragen zu Ihrer persönlichen Situation haben, sind wir gerne bereit, Sie zu unterstützen.

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