Clinicum 5/16, Das elektronische Patientendossier – Eckpfeiler der «Gesundheitsstrategie 2020» Chancen und Risiken eines Systemwechsels
Die geplante Einführung des elektronischen Patientendossiers ist ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur Umsetzung der «Gesundheitsstrategie 2020». Der damit einhergehende Systemwechsel fordert aber Ärzte, Spitäler, andere Leistungserbringer sowie Patientinnen und Patienten gleichermassen heraus. Obschon die Nutzung des elektronischen Patientendossiers im Behandlungsalltag noch in weiter Ferne liegt, zeichnen sich bereits jetzt viele Fragen zum rechtlich korrekten Umgang mit dem elektronischen Patientendossier ab.
Das elektronische Patientendossier ist kein Dossierim herkömmlichen Sinn. Vielmehr stellt es einen zentralen Zugang für an und für sich dezentral abgelegte, behandlungsrelevante Daten dar. Von der herkömmlichen Krankengeschichte unterscheidet sich das elektronische Patientendossier also dahingehend, dass es eben nicht die eigentlichen Daten und Dokumente einer Behandlung enthält, sondern nur preisgibt, wo sich diese Informationen befinden.Das elektronische Patientendossier ist damit ein virtuelles Dossier, von dem aus auf die einzelnen Ablageorte (sog. Primärsysteme, z.B. ein Klinikinformationssystem) und die dort vorhandenen Daten (Laborbefunde, Berichte und Ähnliches) zugegriffen werden kann.
Das Bundesgesetz über das elektronische Patientendossier
Da es sich bei den im elektronischen Patientendossier angezeigten Datenablageorte regelmässigum dort gespeicherte Gesundheitsdaten und damit besonders schützenswerte Personendaten handelt, sind gewisse Voraussetzungen zu beachten. Nebst der Einwilligung des Patienten ist zusätzlich eine gesetzliche Grundlage notwendig. Diese findet sich im Bundesgesetz über das elektronische Patientendossier (EPDG), das 2017 in Kraft treten soll.
Mit dem Inkrafttreten des EPDG werden verschiedene weitere Gesetzesänderungen verbunden sein, so z.B. im Bundesgesetz über die Krankenversicherung (KVG). Das EPDG regelt unter anderem die Voraussetzungen für die Datenbearbeitung des elektronischen Patientendossiers, enthält Bestimmungen zu den Aufgaben des Bundes sowie zu Finanzierungsfragen und beinhaltet Vorschriften über den Zugang zum elektronischen Patientendossier. Zugriff auf das elektronische Patientendossier haben nur sogenannte Gesundheitsfachpersonen. Dazu gehören z.B. Ärzte, Hebammen oder Physiotherapeuten. Wie wichtig dem Gesetzgeber die Zugriffsbeschränkung war, zeigt auch die Strafnorm im EPDG. Demnach wird mit Busse bis zu CHF 100 000 bestraft, wer vorsätzlich und ohne Zugriffsrecht auf ein elektronisches Patientendossier zugreift.
Datenschutzrechtliche Anforderungen
Grundsätzlich sind die Benutzer des elektronischen Patientendossiers an das Datenschutzgesetz gebunden. Für die Datenbearbeitung, also das zur Verfügungstellen der in den Primärsystemen abgelegten Informationen und Abrufen solcher Informationen, benötigen die BenutzerInnen daher in aller Regel die Einwilligung des Patienten. Der Patient bestimmt selbst, ob über seine Gesundheitsdaten ein elektronisches Patientendossier geführt werden soll, und falls ja, wer auf welche Daten zugreifen darf (informationelle Selbstbestimmung).
Erlaubt der Patient einer Gesundheitsfachpersonden Zugriff auf sein elektronisches Dossier, stellt dies eine Einwilligung im datenschutzrechtlichen Sinne dar. Davon ausgenommen sind Notfälle, in denen jede Gesundheitsfachperson (Arzt, Rettungssanitäter, Hebamme etc.) die nötigen Informationen einsehen kann. Zweifler könnten nun einwenden, dass in der Konsequenz die Gefahr besteht, dass wichtige Informationen vom Patienten vorenthalten werden, indem der Patient keine oder nur sehr eingeschränkte Zugriffsrechte erteilt. Pilotversuche mit elektronischen Patientendossiers in Uppsala (Schweden)und in Estland führten jedoch zu einem anderen Ergebnis: Es stellte sich sogar eine Verbesserung der Kommunikation zwischen Patient und Gesundheitsfachperson ein und das elektronische Patientendossier hatte eine Türöffner-Funktion für einen breiteren Gebrauch von eHealth-Services.
Interessanterweise konnte aus den Pilotversuchen jedoch auch geschlossen werden, dass die persönlichen Notizen der Gesundheitsfachpersonen (also z.B. persönliche Hypothesen betreffend Diagnosen) die Patienten eher verunsichern und das Vertrauensverhältnis zwischen Patient und Gesundheitsfachperson möglicherweise störten.
Zertifizierte Stammgemeinschaft oder Gemeinschaft
Als Gemeinschaft wird eine organisatorische Einheit von Gesundheitsfachpersonen und deren Einrichtungen bezeichnet. Das elektronische Patientendossier wird von dieser Gemeinschaft geführt. Nimmt diese organisatorische Einheit zusätzliche Aufgaben wahr, wird sie als Stammgemeinschaft bezeichnet. Nebst der Einwilligung des Patienten muss eine Gesundheitsfachperson einer Stammgemeinschaft oder einer Gemeinschaft angehören, um überhaupt zugriffsberechtigt zu sein. Konkret bedeutet dies, dass z.B. auch Spitäler oder Praxisgemeinschaften von Hausärzten sich einer Stammgemeinschaft oder Gemeinschaft anschliessen müssen. Diese Gemeinschaften müssen über eine Zertifizierung verfügen. Die Rahmenbedingungen und die Zuständigkeiten sowie Fragen der Finanzierung hielt das Eidgenössische Departement des Innern in der Verordnung über das elektronische Patientendossier fest (EPDV-EDI). Konkret gehen daraus die technischen und organisatorischen Zertifizierungsvoraussetzungen für Gemeinschaften und Stammgemeinschaften hervor.
Um eine solche Zertifizierung zu erhalten, muss die Stammgemeinschaft oder Gemeinschaft nebst weiteren Voraussetzungen über ein Datenschutz- und Datensicherheits-Managementsystem verfügen. Geregelt ist ebenfalls, mit welchem Datenformat gearbeitet werden muss, damit der gemeinschaftsinterne und der gemeinschaftsübergreifende Datenaustausch gewährleistet ist. Folglich geht für die einzelnen Gesundheitsfachpersonen der für die Nutzung des elektronischen Patientendossiers zwingende Anschluss an eine Gemeinschaft oder Stammgemeinschaft mit der Anschaffung von Software einher. Die mit der Zertifizierung verbundenen Kosten für die Gesundheitsfachpersonen sind nicht zu unterschätzen. Vorgesehen sind daher Finanzhilfen des Bundes in der Höhe von maximal CHF 30 Mio. Ein Gesuch um Finanzhilfe kann von den Stammgemeinschaften oder Gemeinschaften beim Bundesamt für Gesundheit (BAG) eingereicht werden.
Vor- und Nachteile des elektronischen Patientendossiers
Unbestritten ist, dass mit der Einführung des elektronischen Patientendossiers weitreichende Veränderungen im Umgang mit Patientendaten folgen werden. Als positiv zu bezeichnen ist, dass die Schweiz damit dem Zahn der Zeit folgt und dem Anspruch von Patienten und Gesundheitsfachpersonen nach einem zeit- und ortsungebundenen Informationsfluss gerecht wird. Der Patientwird darin bestärkt, sich mit seinen Gesundheitsdaten auseinanderzusetzen und seine informationelle Selbstbestimmung wahrzunehmen. Besonders bei komplexen und interdisziplinären Behandlungen wird sich dies vermutlichals Segen erweisen.
Abzuwarten ist jedoch, wie die einzelnen Akteure die mit dem Systemwechsel verbundenen administrativen, technischen, organisatorischenund finanziellen Hürden überwinden können. Mit besonderem Interesse zu verfolgen sind auch die Entwicklungen betreffend die Verantwortlichkeit für den Inhalt und die Verfügbarkeit des elektronischen Patientendossiers. Bereits jetzt scheiden sich nämlich die Geister, wer letztlich für fehlerhafte Angaben oder nicht vorhandene Informationen im elektronischen Patientendossier geradezustehen hat.